Der Verlust des Menschlichen – oder die Unterdrückung der Kultur

„Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge einen Schatten.“
Karl Kraus

Dass das Menschliche durch Gewalt und Krieg untergeht, ist eine Binsenweisheit. Viel subtiler und schleichender ist sein Verlust durch Ordnungsstrukturen, die der Entfaltung des eigentlich Menschlichen kaum gesellschaftlichen Spielraum geben und den Menschen an die äußeren Bedingungen des Daseins fesseln.

Die öffentliche Diskussion in den Medien, die das Bewusstsein der Menschen weitgehend prägt, wird zu 95 % von der Politik beherrscht, und die Politik wiederum wird zu 95 % von wirtschaftlichen Fragen und Problemen bestimmt. Kulturelle Fragen spielen kaum eine Rolle, und wenn, dann nur unter politischen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Darin spiegelt sich die geringe Bedeutung, die der Kultur in der Gesellschaft gegenwärtig zukommt. Werden Bildung und Wissenschaft nur für die Bedürfnisse von Politik und Wirtschaft benötigt, und sind Kunst und Religion nur Arabesken des Lebenskampfes? Oder hat die Kultur eine eigene existenzielle Aufgabe?

Im politischen und wirtschaftlichen Leben ist der Mensch primär der Gestaltung seines äußeren, physischen Lebens zugewandt, das der materiellen Wohlfahrt seines körperlichen Daseins dient. Im kulturell-geistigen Leben befasst er sich mit den Fragen seiner inneren Existenz, seines seelisch-geistigen Wesens, mit dem Woher und Wohin, dem Sinn seines Lebens, den Erkenntnisfragen des Daseins und seines rätselhaften Zusammenhanges mit einer höheren weisheitsvollen Welt, aus der alles wie aus einem unsichtbaren Hintergrund hervorzugehen scheint.

Indem sich der Mensch im Wirtschaftsleben um die Sicherung und den Komfort seiner physischen Existenz bemüht, unterscheidet er sich in seinem Verhalten nicht prinzipiell von dem des Tieres, sondern nur durch die ungeheure gedankliche Raffinesse, durch die er seine Bedürfnisse zu befriedigen sucht. Während sich das Leben des Tieres aber in der Sicherung seiner irdischen Existenz erschöpft, bildet das Wirtschaftsleben des Menschen erst die Grundlage, um darauf sein eigentliches Menschsein, seine seelisch-geistige Entwicklung, entfalten zu können. Die geistige Höhe eines Volkes hängt davon ab, wie stark dieses seelisch-geistige Leben als das Wesentliche im Bewusstsein der Menschen lebendig ist. Wird ihr Bewusstsein weitgehend vom äußeren politischen und wirtschaftlichen Leben beherrscht, wird es an die materielle Außenseite des Lebens gefesselt und von seinen inneren Quellen abgeschnitten. Der Mensch führt dann im Grunde das Dasein eines mit Verstand begabten Tieres.

Aber es ist noch etwas Höheres in uns. Wir messen die Zustände um uns und das Handeln der anderen Menschen mehr oder weniger unbewusst ständig an unseren Vorstellungen, wie es eigentlich sein sollte. Und wir merken, dass wir auch selbst mit unserem Verhalten, unserem Tun und unseren Fähigkeiten vielfach nicht zufrieden sind. Wir genügen nicht unseren eigenen Idealen und moralischen Ansprüchen. Wir bleiben zumeist hinter ihnen zurück.

Dies festzustellen, ist aber nur möglich, wenn es eine höhere Instanz in uns gibt, die das, was wir gewöhnlich Ich nennen, beurteilt und am eigenen höheren Maßstab misst – ein höheres Ich sozusagen. Friedrich Rückert dichtete daher:

„Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll; / Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll. / Was er geworden ist, genüge nie dem Mann, / O wohl ihm, wenn er stets nur werden will und kann.“

Und Friedrich Schiller schrieb in seinen „Ästhetischen Briefen“:

„Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist“.[1]

Er verwies dabei auf seinen Freund, den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, der ebenfalls das empirische, also das gewöhnlich erfahrbare Ich von einem reinen Ich unterscheidet, die beide selten übereinstimmen, die aber zur vollkommenen Übereinstimmung zu bringen, die ständige Aufgabe und Bestimmung des Menschen sei. Doch dazu reicht der bloße Wille nicht aus. Wir müssen uns allein und gemeinsam in einem ständigen Prozess des Lernens und der Selbsterziehung  Fähigkeiten und Geschicklichkeiten dafür erwerben, um die Widerstände und Hindernisse der Sinneswelt zu überwinden. Und diesen ganzen Prozess des Erwerbs vielfältiger Geschicklichkeiten und Fähigkeiten nennen wir „Kultur“.

„Die Kultur ist nur nach Graden verschieden; aber sie ist unendlich vieler Grade fähig. Sie ist das letzte und höchste Mittel für den Endzweck des Menschen, die völlige Übereinstimmung mit sich selbst. … Die Sinnlichkeit soll kultiviert werden: das ist das höchste und letzte, was sich mit ihr vornehmen lässt“.[2]

Die Sinnlichkeit wirkt in zweifacher Weise auf das gewöhnlich Ich ein: Von außen wirken die sinnlichen Gegenstände und Wesen seiner Umgebung, von innen die sinnliche Natur seiner Leiblichkeit. Beide überwältigen das Ich ganz oder teilweise, zwingen ihm ihre sinnliche Natur auf und entfremden es seinem reinen Ich. So aber soll es nicht sein, warnt Fichte. Das Ich soll sich selbst bestimmen und sich nicht durch etwas Fremdes bestimmen lassen. Denn der Mensch ist sein eigener Zweck und darf nicht zum Zweck von etwas anderem gemacht werden. Der Mensch muss also einerseits die sinnlichen Einflüsse seines Leibes und andererseits seine sinnliche Umgebung so verändern, d. h. kultivieren, dass sie Ausdruck seines reinen Ich werden und das empirische Ich mit diesem übereinstimmt.

Alles Vernunftlose sich zu unterwerfen, es frei und nach seinem eigenen erkannten Gesetz zu beherrschen, ist letzter Endzweck des Menschen; ein Endzweck, welcher … völlig unerreichbar ist …, wenn der Mensch nicht aufhören soll, Mensch zu sein, und wenn er nicht Gott werden soll.  … Aber er kann und soll diesem Ziel immer näher kommen. Und daher ist die Annäherung ins Unendliche zu diesem Ziele seine wahre Bestimmung als Mensch, d. i. als vernünftiges, aber endliches, als sinnliches, aber freies Wesen. – Nennt man nun jene völlige Übereinstimmung mit sich selbst Vollkommenheit in der höchsten Bedeutung des Wortes,… so ist Vollkommenheit das höchste unerreichbare Ziel des Menschen; Vervollkommnung ins Unendliche aber ist seine Bestimmung. Er ist da, um selbst immer sittlich besser zu werden und alles um sich herum … auch sittlich besser und dadurch sich selbst immer glückseliger zu machen“.[3]

Was der Unterscheidung von niederem und höherem Ich zugrunde liegt, ist der Sündenfall, der in allen Kulturen in unterschiedlichen symbolischen Bildern geschildert wird. Durch ihn ist diese Spaltung des menschlichen Selbst eingetreten – in ein reines höheres, das in den Hintergrund des Bewusstseins gerückt ist, und ein niederes verzerrtes Abbild sozusagen. Damit ist die Menschheit auf einen langen irdischen Entwicklungsweg geschickt worden, den wir in der Menschheitsgeschichte erkennen können.

Wenn dieser ständige innere Prozess im Menschen, sein empirisches Ich immer mehr mit seinem höheren Wesen in Übereinstimmung zu bringen, aller menschlichen Entwicklung zugrunde liegt und vornehmlich in seiner Kultur zum Ausdruck kommt, dann liegt er im weiteren Sinne natürlich auch dem politisch-staatlichen und dem wirtschaftlichen Leben zugrunde, insofern das menschliche Leben eine Einheit bildet. Im kulturellen Leben wird er nur direkt ins Auge gefasst und die Ausbildung der dazu nötigen Fähigkeiten zur eigentlichen Aufgabe gemacht, während die Fähigkeiten im Staats- und Wirtschaftsleben spezifiziert auf den jeweiligen Zweck ausgerichtet und angewendet werden. Aus der Kultur mit ihrem Schul- und Bildungswesen geht also das gesamte gesellschaftliche Leben hervor.

Dazu ist aber notwendig, dass sich das kulturelle Leben frei und unabhängig von Staat und Wirtschaft entfalten kann, damit seine ursprünglichen Intentionen gestaltend in Staat und Wirtschaft einfließen und diese der Entwicklung des Menschen dienen können. Ein freies Geistes- und Kulturleben mit seinem Kern, dem Bildungswesen, muss der Quell sein, aus dem sich auch das Rechts- und das Wirtschaftsleben und damit der gesamte soziale Organismus ständig ernähren und immer wieder nach den höchsten Entwicklungszielen des Menschen erneuern und umgestalten.

Ein von Staat und Wirtschaft bestimmtes und abhängiges Bildungssystem bildet für deren gegenwärtige Bedürfnisse aus und richtet die heranwachsenden Menschen auf deren Zwecke ab. Sie werden missbraucht, um eine bestehende Ordnung, in die sie sich einfügen müssen, für die Zukunft festzuschreiben. Das ist strukturelle Gewalt. In einer menschengemäßen Gesellschaftsordnung muss immer das in Wirtschaft und Staat einfließen können, was die aus dem Bildungswesen in sie eintretenden Menschen an Impulsen mitbringen, nicht aber darf  die heranwachsende Generation in das Prokrustesbett des Gewordenen und oft Erstarrten eingepasst werden.

Das Letztere kennzeichnet die Situation der Gegenwart. Die verkrusteten Strukturen führen dazu, dass das dominierende politische und wirtschaftliche Geschehen den Menschen mit seinen Sorgen und Nöten an die Oberfläche der physischen Existenz bindet und ihn auf sein empirisches Ego reduziert, mit der Folge, dass der sozial zerstörerische Egoismus zur durchgehenden Antriebskraft für alles Handeln des Menschen geworden ist. Die Sehnsucht nach seinem höheren Selbst wird in der instrumentalisierten Kultur weitgehend erstickt, in der Politik herrscht der gnadenlose Kampf um die Macht und im Wirtschaftsgeschehen der „Wolfsgeruch einer inhumanen und über Leichen gehenden Kampfgesellschaft“ (Wilhelm Hankel).

Eine Befreiung aus diesen seelischen und gesellschaftlichen Ketten kann nur über ein unabhängiges, freies Kultur- und Geistesleben mit einem von staatlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten freien Schul- und Hochschulsystem erfolgen. Alles andere bleibt in Korrekturen an der Fassade stecken.  (hl)

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[1] F. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 4. Brief, S.13, Freies Geistesleben, Stuttgart 1961

[2] J. G. Fichte: Über die Bestimmung des Gelehrten, 1. Vorlesung, S. 15, Freies Geistesleben Stuttg. 1959

[3] a. a. O., S. 14, 15

2 Kommentare zu „Der Verlust des Menschlichen – oder die Unterdrückung der Kultur“

  1. Das ist ein interessanter Artikel, der für die meisten Leser hier (MMNews), bei denen die eigene Existenz täglich gelebter Ausdruck völliger Sinnlosigkeit ist – ohne das ihnen das selbst wirklich bewusst wäre -, ein Stopp-Schild sein kann, um sich über die Lebensfalle des „Objektivierbaren“ (Dinge, also Gedankenobjekte und materielle Objekte) klar zu werden.

    Ich habe hier (MMNews) schon oft Beiträge geschrieben, die für die meisten sicherlich zu viel Abkürzung zum Ziel sind, möchte aber zu Herbert Ludwigs Beitrag zumindest sagen, dass er zwar die Witterung aufgenommen, das Wesentliche aber nicht verstanden hat.

    Das, was er für sein „Ich“ hält und was er gerne „kultivieren“ möchte, ist nur ein Bündel Gedanken, also genau dasselbe leere, materielle Objekt wie persönliches Wachstum, Seelenplan, Körper, Job, Karriere, Haus, Auto, Gold etc. Das ist also der Teil, der überhaupt der Schleier über dem echten Selbst ist, von dem er glaubt, dass er zu Überwindung des Animalischen führen würde.

    Das Geheimnis ist, dass die Perfektion der Existenz im Moment des Beginns der Suche entfällt. Das was das „Ich“ sucht, das „Selbst“, ist die Substanz, aus der das „Ich“ entspringt. Die „Ahnung“ von der Herbert hier schreibt, ist also die Suche nach sich selbst Eine Suche im „Außen“ wo es kein Außen und Innen, sondern nur „Sein“ gibt. Ein Sein, das dimensions- und formlose Perfektion und Grundlage aller Erfahrung ist.

    Der Versuch, mit dem „Ich“ zum „Selbst“ zu werden, ist daher die größtmögliche Sackgasse.

    Es ist aber völlig richtig, dass echtes Aufwachen nur dann möglich wird, wenn das Lebensszenario einen Impuls bietet, der das, was in Foren wie diesem als „aufgewacht“ bezeichnet wird, als Tiefschlaf erkennbar macht.

    Dieser Impuls, Dein „Kulturraum“, wird seit Jahrtausenden im Zusammenwirken von Klerus und weltlicher Macht und der Forcierung von Ego, Individualität und Ich-AG zielsicher unterbunden.

    🙂

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