„Duran Adam“ – der Mann, der einfach dasteht

Nach tagelangen Auseinandersetzungen hatte die Polizei den Taksim-Platz in Istanbul schließlich von allen friedlich demonstrierenden Bürgern geräumt. Sie hatte sie niedergeknüppelt, mit Tränengas beschossen und – Angst und Schrecken verbreitend – gnadenlos wie Vieh durch die Straßen gejagt. Von jeder weiteren Demonstration gegen die Staatsgewalt sollten sie ein für alle Mal abgehalten, jeder Demonstrant als Terrorist behandelt werden. Ein Terrorist ist jemand, der mit angedrohter oder tatsächlicher Gewalt Angst und Schrecken verbreitet, um Menschen zu einer bestimmten Verhaltensweise zu zwingen.

Doch auf einmal stand da am Abend auf dem leer gefegten Taksim-Platz ein junger Mann. Er forderte nichts. Er stand einfach nur da, still, gerade, die Hände in den Hosentaschen, mit erhobenem Haupt und ernstem Gesicht schaute er unverwandt auf ein Porträt von Atatürk, des Gründers eines von der Religion getrennten, säkularen türkischen Staates, das groß an der Fassade des seit Jahren geschlossenen Atatürk-Kulturzentrums hing. Er stand so stundenlang, zwei, drei, vier, fünf, schließlich fast sechs Stunden unbeweglich, aufrecht da. Die Polizei, auf ihn aufmerksam geworden, unschlüssig, durchsuchte seinen Rucksack, was er ungerührt und ohne seine Haltung zu ändern geschehen ließ. Sie fand nichts Verdächtiges. Wie eine junge Türkin laut Spiegel-online vom 18.6.13 twitterte, stand er exakt auf dem Platz, auf dem wenige Tage zuvor der junge Ethem Sarisülük durch eine Polizeikugel getötet worden war.

Über Facebook und Twitter verbreitete sich rasch die Nachricht von „Duran Adam“, dem  „stehenden Mann“, wie es wörtlich heißt, besser: dem Mann, der einfach dasteht. Andere schlossen sich ihm an, in Istanbul, Ankara und anderen türkischen Städten, sogar in New York. Es war der türkische Choreograf Erdem Gündüz. Er wurde, wie der Spiegel schrieb, zur Ikone des Aufstands, des Aufstands der freien Individualität gegen die Gewaltherrschaft des Kollektivs, das von wenigen Autoritäten dominiert wird.

Der  Vorgang ist besonders bemerkenswert in einem Land, in dem die Menschen noch stark den traditionellen Blutsbanden von Familie, Sippe und Volk verhaftet sind, in denen nicht in erster Linie der einzelne Mensch das zu schützende Gut ist, sondern die Gesamtheit der Gruppe, deren gottgewollten Autoritäten der Einzelne gehorchen muss. Als einzelner hat der Mensch hier keine selbständige Bedeutung, sondern nur als Bestandteil der Gruppe; er ist gleichsam ein unselbständiges Blatt am Stammbaum der Blutsgemeinschaft, das abgetrennt von ihm zugrunde geht. Wir erleben diese innere Einstellung ja auch bei vielen in Deutschland lebenden Türken noch, wenn die „Familienehre“ über dem Wohl des Einzelnen steht und die sie verletzende Tochter im Familienauftrag vom eigenen Bruder getötet wird.

Doch da treten nun auf einmal in größerem Stile einzelne Menschen in aller Öffentlichkeit aus der staatlichen Gemeinschaft heraus, stellen sich ihr gegenüber, folgen ihren Autoritäten nicht mehr selbstverständlich, machen ihren Eigenwert, ihre Freiheit und Unabhängigkeit als individuelle Persönlichkeiten geltend  —  welch unerhörter, revolutionärer Vorgang!

Was liegt dem zugrunde? Es muss sich ja in den Seelen gegenüber der Vergangenheit etwas verändert haben. Es muss, vor allem bei jungen Menschen, eine neue Kraft in sie eingezogen sein, ein Bewusstsein von der Würde der eigenen Individualität, die unabhängig von jeder Gemeinschaft in sich selbst gegründet ist; und dies nicht als Wunschvorstellung nur, sondern als elementare substanzielle Realität, wie sie vorher nicht erlebt worden ist.

Wir machen uns das in Europa gewöhnlich nicht in dieser Deutlichkeit klar, weil uns in der Entwicklung Europas mit seinem Erbe der antiken Kultur und den christlichen Werten der Vorrang der freien Individualität vor den blutsgebundenen Gemeinschaften, ja vor jeder Gemeinschaft überhaupt, gefühlsmäßig selbstverständlich geworden ist.

Doch obwohl dies in den allgemeinen Menschenrechten und den Grundrechten der Verfassung verankert ist, beansprucht in der politischen Realität auch bei uns der Staat mit seinen alle Lebensbereiche regulierenden Gesetzen noch immer Vorrang vor der Selbstbestimmung des einzelnen Menschen. Da diese traditionelle Praxis mit medialer Dauerberieselung als „demokratische Selbstbestimmung“ ausgegeben wird (s. „Der Unsinn des Staatsphilosophen Habermas“), wird das Bewusstsein des Menschen eingelullt und der noch nicht stark ausgebildete Freiheitsimpuls der Individualität in den Freizeitimpuls des abhängig Arbeitenden abgebogen.

Ist der Mensch vom Impuls der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung durchdrungen, wünscht er ihn auch den Anderen. Freiheit ist die Freiheit aller und führt so die Gleichheit im Gefolge. Die Herrschaft einer Gruppe über alle Anderen – gleichgültig wie sie künstlich begründet wird – ist nur möglich, wenn die Herrschenden  diese freiheitliche Gesinnung nicht haben, wenn sie noch ganz im traditionellen Gemeinschaftsbewusstsein des Einheitsstaates leben, der von wenigen Auserwählten geführt werden müsse. Sie sind noch nicht auf der Höhe der neueren europäischen Bewusstseinsentwicklung angekommen, die mit dem inneren Erfassen des Höheren im Menschen verbunden ist. Sie sind Zurückgebliebene, deren Ego sich in der Macht über Andere, in der Bestimmung ihrer Lebensweise erlebt und verstärkt, sich daher mit allen Mitteln an die Macht klammert und die Strukturen verteidigt, die sie gewährleisten.

Vor kurzem wurde in der Schweizer „Weltwoche“ der peruanische Nobelpreisträger für Literatur Mario Vargas Llosa interviewt, der 1987 für drei Jahre als Präsidentschaftskandidat in die Politik gegangen war. Er hielt anfangs „unbewusst die Politik für ein erregendes Abenteuer“, musste dann aber bald einsehen, dass er als Politiker völlig untauglich war.

„Sie können die hehrsten Ideen haben, aber sobald es an deren Verwirklichung geht, sind Sie Intrigen, Verschwörungen, Paranoia, Verrat und Abgründen an Schmutz und Niedertracht ausgesetzt. Wenn ich eins über den Morbus der Politik gelernt habe, dann dies: Der Kampf um die Macht lockt die Bestie in uns hervor. Was den Berufspolitiker wirklich erregt und antreibt, ist das maßlose Verlangen nach Macht. Wer diese Obsession nicht hat, wird der kleinlichen und trivialen Praxis der Politik angeekelt den Rücken zukehren.“ (Zitiert nach André F. Lichtschlag in „eigentümlich frei“ Aug./Sept. 2013, S. 40.)

Diese Erfahrungen sind nicht auf Peru beschränkt. Die institutionelle Möglichkeit, über Andere Macht auszuüben, zieht überall Menschen an, die eben darin ihre verkappten niederen Instinkte ausleben und mit all diesen niederen Kräften um das Erringen und den Erhalt der Macht kämpfen. Freiheit kennen sie nicht, denn sie sind gerade innerlich unfrei, von diesem Niederen in sich abhängig, werden unbewusst von ihm beherrscht und getrieben. Die Stärksten auf diesem Felde setzen sich durch. Es ist die Auswahl der Schlechtesten. Der seelisch Kultivierte, der die Freiheit in seiner höheren Seele erlebt und für alle erstrebt, kann hier nichts erreichen, weil es ihm unmöglich ist, die anrüchigen Methoden der untersten Seelenschichten anzuwenden. Das System der Macht ist offensichtlich in sich kaum reformierbar, weil es gerade von denen, die es beherrschen und davon profitieren, beweihräuchert und mit Zähnen und Klauen verteidigt wird. Es kann nur über eine größere Bewegung innerlich aufrecht stehender, freier Individualitäten  geistig überwunden und über Volksabstimmungen durch ein demokratisches System ersetzt werden, das seinen Namen verdient.

Auch in Europa brauchen wir noch „Duran Adam“, den Mann, der einfach dasteht, still, aufrecht, wie eine Säule, die die innere Aufrechte der sich selbst ergreifenden, ihrer eigenen geistigen Potenz und Unabhängigkeit bewussten freien Individualität ausdrückt, eine Ikone des Protestes gegen die Diktatur eines geistlosen Politikproletariats, das sich den Staat, die rechtliche Verfasstheit aller, gleichsam zur privaten Beute gemacht hat und mit den Phrasen von „Demokratie“ und „Freiheit“ die wahre Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen ausschaltet. Auch in Europa brauchen wir viele, die ihm nacheifern, in Berlin, London, Dublin, Warschau und Brüssel, in Paris, Rom, Madrid, Lissabon, Athen und auch in Moskau.

Aber der Widerstand des neuen Adam darf sich nicht im äußeren demonstrativen Protest erschöpfen. Das Erwachen zur eigenen geistigen Potenz muss zum klaren Durchschauen der gesellschaftlichen Zusammenhänge führen; denn nur in der Erkenntnis werden wir innerlich wirklich frei. Und indem das Durchschauen des herrschenden Systems zur Erkenntnis der Not-wendigen Gesellschaftsordnung fortschreitet, die wahrhaft Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen ermöglicht, bildet sich eine geistige Kraft, die sich als stärker erweisen wird als die bestehenden Zwangssysteme. Denn sie führt kein Chaos herbei, in dem sich nur wieder neue Herrscher aufschwingen, sondern hält die konkreten Ideen einer neuen menschengemäßen Ordnung bereit, die sukzessive an die Stelle der zerfallenden treten kann.  (hl)

4 Kommentare zu „„Duran Adam“ – der Mann, der einfach dasteht“

  1. Mal wieder gut gebrüllt, Löwe. Die sparsamsten Mittel sind oft die wirksamsten. die aufrechte Gestalt ist ja wohl der deutlichste körperliche Ausdruck des Ich. Uli

  2. Ganz stark. Einfach stehen, für sich stehen – und auf diesem Platz, dann steht der Mann auch für Alles. Totaler Ausdruck von aktiver Passivität, innerer Sicherheit und was noch? – keinesfalls defensiv. Alle Achtung. Sinnbild des Menschen, der aus sich selbst heraus da ist. Ganz entschieden. Und es ist klar wofür, es ist klar; keine Gewalt natürlich. Wer so stehen kann, ist groß – die Idee ist das eine, die Durchführung selbst bei der Rucksackdurchsuchung eingehalten, das ist groß.

  3. ^^ Das Problem ist halt nur, dass das „Stehen des Mannes“ rein gar nichts bewirken wird 😉 Wer das nicht kapiert, der muss zurück in die Schule! Heute erreicht man keinen Politiker mehr, wenn nicht sein Haus brennt, man ihn innerlich wachrüttelt (und das geht schon längst nicht mehr durch Worte, denn immerhin ignorieren die meisten Politiker die Demonstranten einfach)…also was soll das? Er wird rein gar nichts mit dem Dastehen bewirken es ist vollkommen egal wieviele sich ihm anschließen werden. Heute erreicht man nur noch durch TATEN etwas. Und Taten sind halt nicht „dastehen und nichts tun“. Worte sind und bleiben halt nur Worte. Amen.

  4. Sie übersehen, dass von diesem aufrechten, stillen Dastehen des Menschen eine geistige Kraft ausgeht, die Kraft der in sich selbst gegründeten, unabhängigen Individualität, die letztendlich stärker ist als alle äußere angemaßte Autorität. Das ist auch von vielen jungen Türken empfunden worden und hat letzten Sommer zu einer großen Solidarität geführt. Das sind TATEN. Wenn das weiter Schule machen würde, wäre das von großer Bedeutung. Denken Sie an den gewaltfreien Widerstand Gandhis, mit dem er die Unabhängigkeit Indiens von der imperialistischen Kolonialherrschaft des Britischen Empire erreicht hat.

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