Die Bedeutung der Juden in der Entwicklung der Menschheit – und der Staat Israel

Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Arabern und dem Staat Israel, die gegenwärtig wieder furchtbare Ausmaße angenommen haben, werden in der Regel zu oberflächlich behandelt, um zur Klärung über die wahren Verhältnisse zu kommen. Man muss bis zu Wesen und Bedeutung des jüdischen Volkes in der vorchristlichen Zeit zurückgehen, die Entwicklungsimpulse der Menschheit ins Auge fassen und die zionistischen Ansprüche betrachten, die nach zweitausend Jahren inmitten einer arabischen Bevölkerung in Palästina zur Gründung eines neuen jüdischen Nationalstaates geführt haben. Erst aus der Erkenntnis der ganzen Wahrheit können sich gerechte Lösungen entwickeln.

Von grundlegender Bedeutung für das Verstehen der Geschichte ist die Erkenntnis, dass sich die Menschheit in einer unaufhörlichen Entwicklung befindet, die natürlich von göttlichen Schöpferwesen auf ein bestimmtes Entwicklungsziel hin gelenkt und immer wieder zur Ausbildung neuer Begabungen und Fähigkeiten impulsiert wird. Diese Entwicklung wird, das zeigt die Geschichte, von jeweils besonders begabten Völkern vorangetrieben, die einer bestimmten Entwicklungs-Epoche das Gepräge geben.1  Im Leben dieser Völker wird ganz besonders die inspirierende Führung durch göttliche Wesen deutlich, denen das ganze religiöse Leben der Menschen zugewendet war.

Enstehung des alten israelitischen Volkes

So schildert auch das Alte Testament, dass die Entstehung des hebräischen, israelischen Volkes auf den Gott Jahve oder Jehova zurückgeht, der (um 1.800 v. Chr.) Abraham in Ur (Chaldäa) auserwählte, Stammvater eines neuen Volkes zu werden. Dieses sollte Fähigkeiten entwickeln, die noch bei keinem bisherigen Volk vorhanden waren. Die Menschen der umliegenden Völker hatten noch Reste gewisser hellseherischer Fähigkeiten, mit denen das vielfältige Göttliche in Kosmos und Natur wirkend geschaut wurde. Das neue Volk sollte nicht diese vielen Göttern in der Außenwelt verehren, sondern Jahve als den höheren schöpferischen Gott im Inneren, im eigenen Blute erleben und empfinden.2

Die Jahve-Kräfte bildeten die leibliche Organisation Abrahams, welche die bisherigen hellseherischen Fähigkeiten ermöglichte, allmählich so um, dass das alte Hellsehen weitgehend  schwand und insbesondere das Gehirn zum Organ und Instrument des begrifflichen Denkens auskristallisiert wurde. Mit dieser neuen Fähigkeit stand Abraham sozusagen als welthistorische Gestalt zunächst einsam da.3
Diese Individualität war ganz besonders imstande, die Erscheinungen der physischen Welt nach Maß, Zahl, Ordnung und Harmonie zu überschauen, die Einheit zu suchen in den außen ausgebreiteten Erscheinungen. … Dasjenige, was da als Einheit erscheint, das erschien als Einheit in der Außenwelt, als der Gott hinter den Erscheinungen des physischen Planes.“ 4            

Mit dem Gehirndenken gewann der Mensch eine innere Mittelpunkts- und Einheitskraft, einen ersten Ich-Punkt, von dem aus er im Weltganzen die göttliche Einheit wahrnahm. Damit wird der Gedanke des Monotheismus geboren, der hinter die Vielheit der Elemente, Geschöpfe und Gottheiten als das eine Göttliche, den Schöpfer aller Geschöpfe, das eine göttliche Ich, vorzudringen sucht.5
Das denkende Suchen der Einheit hinter der Vielfalt der Erscheinungen und die religiöse Verehrung des einen übergeordneten Gottes Jahve flossen zusammen.

Da bei Abraham das Denken an das Gehirn, an die physische Organisation, gebunden war, konnte die Fähigkeit dieses Denkens durch physische Vererbung auf die Nachkommen übertragen werden, so dass ein neues Volk von ihm ausging, das diese Fähigkeit auszeichnete. So sagte nach der Bibel Jahve zu ihm (in der richtigen Übersetzung): „Deine Nachkommen sollen geordnet sein wie die Zahl der Sterne (des Tierkreises).“ Das drückte sich aus in den zwölf Söhnen seines Enkels Jakob, welche die Stammväter der zwölf Stämme Israels wurden.

In der gesamten althebräischen Literatur tritt nichts so sehr hervor wie die Warnung, keinen anderen Göttern zu dienen. Abweichungen, die immer wieder vorkamen, wurden streng geahndet, damit der von Jahve vorgezeichnete Entwicklungsweg, in der  inneren denkenden Mittelpunkts-Bildung dem einen großen Gottes-Ich nahe zu kommen, eingehalten wurde.

Die seelisch-geistige Erziehung des Volkes

Moses und die Zehn Gebote
(von Jusepe de Ribera) Wikipedia

Während von Abraham die besondere leibliche Ausbildung des israelischen Volkes ausging, die durch die Generationen weitervererbt wurde, begann mit der Gestalt des Moses eine besondere seelisch-geistige Erziehung. Was bis dahin das Volk hinter den intellektuell, begrifflich erfassten vielfältigen Erscheinungen als einheitliche Gottheit nur erst ahnen konnte, sollte im tiefsten Zentrum der Seele immer bewusster erlebt und empfunden werden.

In der ägyptischen Gefangenschaft war das Volk noch einmal stark in den Bannkreis des alten Hellsehens gekommen. Moses selbst war als Adoptivsohn der Pharao-Familie zu seiner ererbten Verstandesveranlagung auch in die dort herrschenden alten hellseherischen Fähigkeiten hineingewachsen und in die ägyptischen Mysterien eingeweiht worden. Er beherrschte also beide Seelenfähigkeiten und war in der Lage, das Volk nicht nur äußerlich, sondern auch seelisch aus Ägypten herauszuführen.

Der Auftrag dazu wird ihm von der Gottheit aus einem brennenden Dornbusch erteilt – natürlich eine hellseherisch wahrgenommene übersinnliche Erscheinung. Als Moses fragt, welchen Namen des Gottes er dem Volk nennen soll, der ihn sendet, erhält er die Antwort: „Ich bin der ICH-BIN. So sollst du zu dem Volk Israel sprechen: Der ICH-BIN hat mich zu euch gesandt!“  (2. Mos. 3, 13 u. 14).

Das eine Mittelpunkts-Wesen alles Seins, das Welten-Ich, wird für Moses hörbar hinter dem Schleier der irdischen und himmlischen Vielheit. Damit ist zugleich die Verheißung für das Volk gegeben, sich bewusst zu werden, dass im tiefsten Mittelpunkt der Seele jedes Einzelnen, im eigenen Ich, das sich durch die Kraft des begrifflichen Denkens anfänglich gebildet hat, etwas wie ein Abbild des Gottes-Ichs aufkeimt. Und nur diesem kann sich das Gottes-Ich offenbaren.

Nicht außerhalb des Menschen, sondern im tiefsten, allerheiligsten Mittelpunkt der Menschenseele, in seinem sich selbst bewusst werdenden Ich, kann das Mittelpunkts-Wesen des Seins, das Welten-Ich, das sich dem Moses zuerst durch hellseherisches Erkennen offenbarte, auch von jedem Menschen immer mehr und mehr erlebt werden. Es ist durch kein Bildnis auszudrücken, das immer nur anderes abbilden kann.6

Und Moses erhält in einem weiteren gewaltigen hellseherischen Erkenntnis-Erlebnis, dem Empfang der Zehn Gebote, die göttlichen Anweisungen für das Verhalten und Handeln der Menschen, durch die allein der Zusammenhang mit dem Gottes-Ich aufrecht erhalten und das eigene Ich immer mehr gestärkt und entwickelt werden konnte. Der Mensch konnte dem göttlichen „Ich bin“, nur dadurch treu bleiben, dass er sein Gesetz erfüllte, das seinem eigenen Ich die rechte Richtung gab. Denn das Ich war damals noch in das Gruppenbewusstsein des Volkes eingebettet und noch nicht imstande, sich von innen selbst zu bestimmen; es mussten ihm zur Entfaltung und Stabilisierung seines Wesens von außen Entwicklungslinien gegeben werden.

Luthers Übersetzung der Zehn Gebote ist in dieser Hinsicht unzureichend und bringt das nicht genügend zum Ausdruck:
„Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“
Der „Herr“ des Menschen ist derjenige, der von sich sagt: „Ich bin der Ich bin“; und der Herr in der eigenen Seele ist das eigene „Ich bin“.       

Rudolf Steiner übersetzt daher aus dem ganzen Sinnzusammenhang des „Ich bin“ den Urtext der Langfassung des 1. Gebotes:
„Ich bin das ewig Göttliche, das du in dir empfindest. Ich habe dich aus dem Lande Ägypten geführt, wo du nicht Mir in dir folgen konntest. Fortan sollst du andere Götter nicht über Mich stellen. Du sollst nicht als höhere Götter anerkennen, was dir eine Abbildung zeigt von etwas, das oben am Himmel scheint, das aus der Erde heraus oder zwischen Himmel und Erde wirkt. Du sollst nicht anbeten, was von alldem unter dem Göttlichen in dir ist. Denn Ich bin als das Ewige in dir und bin ein fortwirkendes Göttliches. Wenn du Mich nicht in dir erkennst, werde Ich als dein Göttliches verschwinden bei Kindern und Enkeln und Urenkeln, und deren Leib wird veröden. Wenn du Mich in dir erkennst, werde Ich bis ins tausendste Geschlecht als Du fortleben, und die Leiber deines Volkes werden gedeihen.7

Der jüdische Mensch sollte sein Ich als Nachbild des göttlichen Ur-Ich erkennen, das ihn allmählich zur Selbständigkeit führen soll, was in der ägyptischen Kultur nicht möglich war, wo der Mensch noch der äußeren suggestiven Führung der Priester unterstand.

Das 2. Gebot übersetzt Luther ebenfalls recht äußerlich mit:
„Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.“

Rudolf Steiner übersetzt:
Du sollst nicht im Irrtum von Mir in dir reden, denn jeder Irrtum über das Ich in dir, wird deinen Leib verderben.“
Das göttliche „Ich bin“ ist der Schöpfer des gesunden Leibes, und der dauernde Irrtum über die höchsten göttlichen aufbauenden Kräfte in sich und ihren Zusammenhang mit dem eigenen Ich erzeugt Siechtum des Leibes.

Auch im 3. Gebot kommt es auf diese innere Ich-Beziehung an.
„Du sollst den Feiertag heiligen“
bleibt da völlig äußerlich, auch wenn man die Luther´sche Übersetzung der Begründung in Moses 2. 20, Vers 8-11 hinzunimmt.

Rudolf Steiner übersetzt diese Langfassung sinngemäß:
Du sollst Werktag und Feiertag scheiden, auf dass dein Dasein Bild Meines Daseins werde. Denn, was als Ich in dir lebt, hat in sechs Tagen die Welt gebildet und lebte in sich am siebenten Tage. Also soll dein Tun und deines Sohnes Tun und deiner Tochter Tun und deiner Knechte Tun und deines Viehes Tun und dessen, was sonst bei dir ist, nur sechs Tage dem Äußeren zugewandt sein; am siebenten Tage aber soll dein Blick Mich in dir suchen.“

In dem, was das Menschen-Ich tut, soll es Abbild sein des göttlichen Ur-Ich. Und wie das Ur-Ich das Werk der Weltenschöpfung in sechs Weltentagen geschaffen hat und am siebenten Tage in sich ruhte, so soll auch der Mensch sechs Tage schaffen und am siebenten Tage den Zusammenhang des göttlichen Ich mit seinem Ich suchen.

Im 4. Gebot (Verhältnis zu den Eltern) wird der Übergang zum sozialen Leben vollzogen, und alle folgenden Gebote, die eigentlich Verbote sind, haben den unausgesprochenen Appell zur Grundlage, nicht nur das eigene Ich, sondern auch das Ich im anderen Menschen zu achten und nicht zu verletzen, womit die Grundregel des sozialen Lebens gekennzeichnet ist: Sieh in deinem Nebenmenschen ebenso ein Abbild des göttlichen Ich, das du wertschätzen sollst, wie in dir selbst. Das ist bereits die geistige Begründung der Gleichheit vor dem Gesetz.    

Spaltung und Prophetentum

Die ganze weitere Geschichte des aus den zwölf Stämmen bestehenden israelitischen Volkes ist vom Streben und Kampf um diese innere Ich-Entwicklung im engen Zusammenhang mit der inneren Hinwendung zum Gottes-Ich gekennzeichnet. Immer wieder, wenn die Ich-Kräfte nicht stark genug waren, folgte ein Abfall in alte heidnische Kulte der Anbetung äußerer Götterbilder. Über den Gott im Innern machte sich dann Irrtum breit, das Gottes-Ich wurde nicht mehr erkannt, so dass es, wie die beiden ersten Gebote warnten, aus dem Bewusstsein verschwand und die Leiber in Dekadenz gerieten.

In der Zeit des Königtums, das in Salomo (966-926 v. Chr.) seinen Höhepunkt erreichte, konnten unter der überwiegenden Führung des Stammes Juda alle zwölf Stämme in einem Reich zusammengehalten werden. Doch nach Salomos Tod brach es in ein Nordreich aus zehn Stämmen  und ein aus den Stämmen Juda und Benjamin bestehendes Südreich, mit der alten Hauptstadt Jerusalem, auseinander. Die Stämme des Nordreichs konnten den inneren Entwicklungsweg nicht durchhalten, der nun vor allem von Juda, das sich neben dem kleinen Stamme Benjamin auf sich selbst gestellt sah, als das spezifische Judentum fortgeführt wurde.

Das Nordreich wurde nach langen kriegerischen Auseinandersetzungen von den Assyrern erobert (722 v. Chr.), wurde assyrische Provinz, und die zehn Stämme wurden zum größten Teil in andere Provinzen zerstreut. Judäa hielt mühsam stand, wurde aber 587 v. Chr. von den Babyloniern erobert, die das gesamte Volk in die „babylonische Gefangenschaft“ führten.

In dieser kritischen Zeit traten die vielen großen Propheten auf, welche mahnend das religiöse Leben auf seine ursprüngliche mosaische Strenge zurückzuführen, aber zugleich das intellektuelle Denken in eine intensive Verinnerlichung zu vertiefen bemüht waren. Dies gelang letztlich nur bei den Juden, die auch in der Gefangenschaft zusammenhielten. Nachdem die Perser Babylonien erobert hatten, schickten diese eine erste Kolonie von 50.000 Juden wieder in ihre Heimat zurück (um 530 v. Chr.).8

Die Propheten richteten den Blick in die Zukunft, in der die leidvolle Entwicklung des Volkes in der Gestalt des Messias ihre Erfüllung finden werde. Sie ermahnten das Volk: Jehova ist nicht nur der strenge, unerbittliche Gott, der das Böse noch in den Kindern und Kindeskindern rächt, sondern er weist mit dieser Strenge den Menschen eben darauf hin, das Ich des einen Gottes im eigenen Ich sprechen zu hören. Aus dieser inneren Verbundenheit fließt die wahre innere Kraft und Zuversicht des Menschen. Mit keinem anderen Wesen der Welt ist der Mensch innerlich so verbunden als mit diesem Gotteswesen.

Diese eine Wesenheit spricht so intim, so herzensinnig zur Seele, dass diese sich selbst und den Gott mit einem Namen bezeichnen muss, mit dem einen kleinen Wörtchen „Ich“. Wenn die menschliche Seele sich selbst recht versteht, muss sie bekennen, dass sie durch das Bejahen ihrer eigenen Existenz zugleich das Sein dieser göttlichen Wesenheit mitbejaht, und umgekehrt, sich selbst verleugnen müsste, wenn sie dieses Wesen leugnen wollte.“ 9

Oder anders gesagt: Wenn der Mensch sich auch nur anfänglich als eine innere Einheit, als Ich, erlebt, kann er nicht anders, als die innere Einheit Gottes als die höchste und wesenhafteste Eigenschaft zu sehen.10
Und dieses Wesen werde zum jüdischen Volke zur Erde kommen.

Die Verinnerlichung des äußeren Gebotes

Die Menschheit ist in einer ständigen Entwicklung, die zu immer neuen Stufen weiterführt. Wohin führte die Stufe der jüdischen Ich-Entwicklung? Das Ich-Gefühl des Menschen wurde durch die vom Gottes-Ich geprägten Gebote, durch die noch von außen wirkenden moralischen Gesetze gebildet. Das sich anfänglich erfassende Ich des Menschen war noch nicht unabhängig und frei in sich selbst gegründet, sondern eingebettet in das Gruppenbewusstsein des Volkes, das durch das gemeinsame Blut, das von Abraham herunterfloss, bestimmt war, in dessen Schoß es nach dem Tode zurückkehrte.

Durch zwei Faktoren wurde also das israelisch-jüdische Volk gebildet, sozusagen erzogen: einerseits durch die von Abraham eingeleitete leibliche Prägung eines intellektuellen Gehirndenkens, das befähigte, die Einheit hinter den Erscheinungen zu erfassen, und das durch die Generationen weitervererbt wurde; andererseits durch die von Moses eingeleitete seelische Ich-Erziehung mittels der Gebote, durch die das zart aufleuchtende eigene Ich der Einheit der Welt wesenhaft im Gottes-Ich nahe kommen und sich als dessen lebendiges Abbild erkennen sollte.

Aber das Ich ist dem Wesen nach ein „Auto-Mobil“, ein Selbstbeweger, der sich von innen selbst bestimmt. Wenn es aus Entwicklungsgründen noch der Außenlenkung durch die Gebote bedurfte, dann musste einmal das Stadium erreicht werden, in dem das durch das gemeinsame Blut bestimmte Gruppenbewusstsein und die von außen wirkenden Gebote ihre stützende Aufgabe erfüllt hatten. Es liegt im Wesen des Gesetzes zur Förderung der Ich-Werdung, dass es im Laufe der Entwicklung aufhören musste, ein von außen gebotenes Gesetz zu sein. Der Sinn des mosaischen Gesetzes erfüllt sich im Ende seines äußeren Zwanges. Die Treue der Ich-Entwicklung gegenüber führt den Menschen dazu, keines Gesetzes mehr zu bedürfen, das ihn von außen bestimmt.

Das heißt, das zunächst von außen gegebene Gesetz zieht inhaltlich nach innen in die Einsicht des Ich als etwas, das sein eigenes Lebenselement ausmacht. Das Gesetz will sozusagen in den ureigenen und freiheitlichen Willen des Menschen selbst verwandelt werden. In der Freiheit des Menschen findet jedes Gesetz seine entwicklungsgeschichtliche Erfüllung.

Der Messias

Zum Erreichen dieser Freiheit musste ein ganz neuer Impuls einsetzen, der höher war als der des nur vorbereitend wirkenden Volksgottes Jahve, der die Kraft des göttlichen „Ich bin“ der Seele des Menschen nicht nur gruppenhaft nahebrachte, sondern in das Ich des Menschen selbst trug, um es – nun nicht von außen zu bestimmen,  sondern – von innen zu erfüllen. Dazu versenkte sich ein höheres Gotteswesen, der Schöpfergott der ganzen Menschheit, wie es im Prolog des Johannes-Evangeliums geltend gemacht wird, in Leib und Seele eines einzelnen Menschen, so dass das reine „Ich bin“ jetzt aus dem Innersten eines Menschen auf Erden sprach. Dadurch kann es im Ich jedes Menschen, das sich ihm öffnet, befruchtend, belebend und stärkend aufleuchten, damit es sich den bestimmenden Kräften des Volkes und dem Zwang der äußeren Gebote entziehen und aus sich selbst leben und handeln kann. Das ist natürlich subjektiv ein langsamer Prozess.

Doch das Gesetz ist objektiv an sein Entwicklungsziel gekommen. Sein Inhalt wird dadurch nicht aufgehoben, aber der Zwang von außen hat seine Berechtigung verloren, insofern sich nun der Mensch aus Erkenntnis in Freiheit den Impuls seines moralischen Handelns selbst geben kann. Daher sagte Christus auch: „Ihr sollt nicht denken, ich sei gekommen, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Meine Aufgabe ist nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ 11 Die Erfüllung besteht darin, dass der Mensch nun die Kraft haben kann, aus Erkenntnis der Wahrheit sein Handeln selbst frei bestimmen zu können: „… und ihr werden die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ 12

Damit war aber auch das jüdische Volk selbst an sein Entwicklungsziel gekommen. Es hatte seine historische Aufgabe für die Menschheitsentwicklung erfüllt. Dafür war es auserwählt worden.

Die Tragik des Judentums

Der Leib Jesu war durch zwei auserwählte Generationenreihen des Volkes auf eine komplizierte Weise vorbereitet worden.13 Den inneren Ich-haften Weg zu dem Christus selbst, der in den Leib Jesu eingezogen war, hatten das Gesetz und die Propheten geschult. Doch die große Menge der Juden konnte nicht erkennen, dass der verheißene Messias bereits zur Erde gekommen war und aus Jesus von Nazareth zu ihnen gesprochen hatte. Sie töteten ihn sogar als Ketzer mit der grausamsten Art der Todesstrafe, nicht wissend, dass sie mit seinem Opfertode gerade den Weg für die weitere heilsame Entwicklung der Menschheit bereiteten. Das ist die weltgeschichtliche Tragik des Judentums.

Anstatt in der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer und der Zerstreuung in alle Welt die Zeichen zu erkennen, und sich als Volk in die anderen Völker aufzulösen, wie es immer in der Geschichte geschehen war, hielten jedoch die meisten Juden an ihrem durch das Blut gegebenen Volkszusammenhang und die Gesetzesreligion innerlich hartnäckig fest und warten bis heute noch immer auf den verheißenen Messias. –

So haben sie innerhalb anderer Völker fest zusammengelebt, nur untereinander geheiratet und ihre strenge Gesetzesreligion ausgeübt, sich also selbst isoliert und ein Exildasein geführt, das sie überall von den Einheimischen auffallend unterschied. Dies rief Abneigung hervor, so dass man ihnen vielfach auch argwöhnisch alle möglichen Dinge zugeschrieben hat, so wie die Menschen nun einmal sind. Das wurde die Hauptursache für den in zweitausend Jahren überall aufkommenden Antisemitismus, der damit nicht entschuldigt, sondern in seiner Entstehung erklärt werden soll.

Diese Juden bleiben dadurch aber in der inneren Entwicklung zweitausend Jahre zurück. Sie halten an einem veralteten, erstarrten Gesetzesprinzip fest, durch das die durch Christus, den Messias, impulsierte Freiheits-Entwicklung gerade verhindert wird. –

Und mit der Gründung des Staates Israel in Palästina versucht ein fundamentalistischer Teil der Juden einen Volkszusammenhang wieder herzustellen und in eine national-egoistische Staatsform zu gießen, die in völliger Verkennung der eigenen Geschichte ein biblisches Recht auf den ehemaligen Boden Palästinas gegen die jetzt dort seit vielen Jahrhunderten lebenden Menschen behauptet. Das kann man nur als religiösen Wahnsinn bezeichnen. Aber daraus sind Hunderttausende von Einheimischen vertrieben oder getötet worden. Ein Staat aber, der auf Unrecht gegründet ist, muss sich durch immer neues Unrecht verteidigen. „Was man mit Gewalt beginnt, kann man nur mit Gewalt behalten.“ (Mahatma Gandhi) Dies kennzeichnet die gegenwärtigen Ereignisse in Palästina.

Ein sich fortzeugender Unrechtsstaat kann auch nicht mit der antisemitischen Judenverfolgung  gerechtfertigt werden. Es wäre ein gemeinsamer Staat in völliger Gleichberechtigung aller in Palästina Lebenden möglich gewesen. Doch dem kann hier nicht nachgegangen werden.

Rudolf Steiner sagte am 8. Mai 1924 vor Arbeitern auf eine Frage:
Und das ist es, was notwendig wäre zu sagen auf die Frage: Hat das jüdische Volk seine Mission in der menschlichen Erkenntnisentwicklung erfüllt? – Es hat sie erfüllt. (…) Und daher ist diese jüdische Mission als solche, als jüdische, nicht mehr notwendig in der Entwicklung, sondern das einzig Richtige ist, wenn die Juden durch Vermischung … in den anderen Völkern aufgehen.“
„Daher habe ich es von Anfang an bedenklich gefunden, dass die Juden, als sie nicht mehr recht aus und ein gewusst haben, die zionistische Bewegung begründet haben. Einen Judenstaat aufrichten, das heißt, in der allerwüstesten Weise Reaktion treiben, in der allerwüstesten Weise zur Reaktion zurückkehren, und damit sündigt man gegen alles dasjenige, was auf diesem Gebiet heute notwendig ist.

Sehen Sie, ein sehr angesehener Zionist, mit dem ich befreundet war, der legte mir einmal seine Ideale auseinander, nach Palästina zu gehen und dort ein Judenreich zu gründen. Er tat selber sehr stark mit an der Begründung dieses jüdischen Reiches, tut heute noch mit und hat sogar in Palästina eine sehr angesehene Stellung. Dem sagte ich: Solch eine Sache ist heute gar nicht zeitgemäß; denn heute ist dasjenige zeitgemäß, dem jeder Mensch, ohne Unterschied von Rasse und Volk und Klasse und so weiter sich anschließen kann. Nur das kann man eigentlich heute propagieren, dem sich jeder Mensch ohne Unterschied anschließen kann. Aber jemand kann doch nicht von mir verlangen, dass ich mich der zionistischen Bewegung anschließe. Da sondert ihr ja wiederum einen Teil aus von der ganzen Menschheit! – Aus diesem einfachen, naheliegenden Grunde kann eigentlich eine solche Bewegung heute nicht gehen. Sie ist im Grunde genommen die wüsteste Reaktion….“

Dies Gespräch habe vor dem Ersten Weltkrieg stattgefunden, zu dem das sich gegeneinander Absondern der Völker, das egoistische Geltend-machen der eigenen nationalen Interessen gerade geführt habe! Und so sei das größte Unglück dieses 20. Jahrhunderts von dem gekommen, was die Juden jetzt auch wollten. 14

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1    Vgl. https://fassadenkratzer.wordpress.com/2023/04/06/die-freie-individualitat-kann-sich-nur-aus-der-kulturgemeinschaft-des-volkes-entwickeln/
2    Vgl. Ludwig Thieben, Das Rätsel des Judentums, Basel 1991, S. 60 f.
3    Vgl. Emil Bock, Urgeschichte, Stuttgart 1971, S. 90 f.
4    Rudolf Steiner, Vortrag 14.11.1909 in Stuttgart, in GA 117, Dornach 1966, S. 114 f.
5    Wie Anm. 3, S. 95
6    a.a.O.
7    Rudolf Steiner in Gesamtausgabe Nr. 108, Dornach 1970, S. 63 ff.
8    Emil Bock, Könige und Propheten, Stuttgart 1977, S. 288
9    Anm. 2, S. 137
10  Vgl. Pietro Archiati, Die Weltreligionen, 1977, S. 142
11  Matthäus-Ev. 5, 17 f.
12  Johannes-Ev. 8, 32, 33
13  https://fassadenkratzer.wordpress.com/2022/12/27/das-offenbare geheimnis-von-zwei-jesus-knaben/
14  Vortrag vom 8.Mai 1924 in GA 353, S. 196 f.