Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates – Zum 250. Geburtstag Wilhelm von Humboldts

Der am 22. Juni 1767 geborene Wilhelm von Humboldt wird allgemein als der große Reformator des preußischen Bildungswesens im Geiste des Neuhumanismus gewürdigt. Seine bedeutende Tätigkeit 1809 bis 1810 als „Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Inneren“, also gleichsam als Kultusminister, als der er den Grundsatz der allgemeinen Menschenbildung von der Elementarschule bis zur Universität verankerte, ist breit erforscht und beschrieben worden.

Doch wenig bekannt wurde bisher der Inhalt seiner genialen Jugendschrift von 1792,  die eine in ihrer Konsequenz revolutionäre Staatstheorie enthält: „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“. Es sind Ideen, tief in den humanistischen Gedanken des sich zur Freiheit entwickelnden Menschen gegründet, die dem heute noch selbstverständlichen oligarchischen Einheitsstaat als Instrument einer herrschenden Minderheit gefährlich werden würden. Vermutlich liegt darin auch der Grund, dass diese Schrift kaum konsequent zum Gegenstand der staatsabhängigen Wissenschaft gemacht worden ist. Sicher hat auch Humboldts Sprache, sein mitunter etwas umständlicher Stil ihre Verbreitung nicht gerade begünstigt. An die schwungvollen, künstlerisch geformten Satzgefüge seines Freundes Friedrich Schiller kam er bei weitem nicht heran.

Aber die in dieser Schrift verborgenen Keime zukünftiger Gesellschaftsgestaltung sind es wert, genauer nachdenkend betrachtet zu werden.

Was nicht Aufgabe des Staates ist

Humboldt stellte die herrschende Staatstheorie und -praxis infrage, dass der Staat außer für die äußere und innere Sicherheit der Bürger auch für ihr physisches, wirtschaftliches, und ihr moralisches, d.h. ihr seelisch-geistiges Wohl, also für das ganze Bildungs- und sonstige Geistesleben zu sorgen habe. Den Maßstab für seine Beurteilung entnahm er dem Wesen des Menschen, der sein eigener Zweck sei und der sich von innen nach außen entwickeln wolle, was nur durch die Anspannung seiner eigenen Kräfte, ohne äußere Bevormundung erfolgen könne.

„Der wahre Zweck des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welche die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlässliche Bedingung.“ 1

In einem Brief an Friedrich von Gentz vom August 1791 hatte er bereits drastisch geschrieben, dass „das Prinzip, dass die Regierung für das Glück und das Wohl, das physische und moralische, der Nation sorgen muss“, gerade „der ärgste und drückendste Despotismus“ sei.2  Gesetze des Staates, die das Handeln des Menschen im Wirtschafts- und im Geistesleben inhaltlich diktieren, und wären es die bestmöglichen, erniedrigen den Menschen zum folgsamen Sklaven und bedeuten nichts anderes als eben Diktatur. Der Mensch wird seines eigenen Zweckes, seiner wahren Bestimmung, sich selbst zu bestimmen und sich dadurch weiter zu entwickeln, beraubt.

„Ein Staat, in welchem die Bürger … genötigt oder bewogen würden, auch den besten Ge­setzen zu folgen, könnte ein ruhiger, friedliebender, wohlhabender Staat sein; allein er würde mir immer ein Haufen ernährter Sklaven, nicht eine Vereinigung freier, nur, wo sie die Grenze des Rechts übertreten, gebundener Menschen scheinen.“ 3

Die Entfaltung der individuellen Kräfte der Menschen erzeugt eine große Vielfalt des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens. Denn jeder Mensch steht an einem anderen Entwicklungspunkt, an dem er ganz bestimmte Anforderungen vorfindet und dafür spezifische Fähigkeiten entwickelt. Aber die Spezialisierung jedes Einzelnen wird durch die Spezialisierungen der Anderen ergänzt und befruchtet. So entsteht in der Summe eine Mannigfaltigkeit unter den Menschen, die der Einzelne nicht hervorbringen könnte. Geht alle Bestimmung vom Staate aus, entsteht nur eine breite Einförmigkeit.

„Gerade die aus der Vereinigung Mehrerer entstehende Mannigfaltigkeit ist das höchste Gut, welches die Gesellschaft gibt, und diese Mannigfaltigkeit geht gewiss immer in dem Grade der Einmischung des Staats verloren. Es sind nicht mehr eigentlich die Mitglieder einer Nation, die mit sich in Gemeinschaft leben, sondern einzelne Untertanen, welche mit dem Staat, d. h. dem Geiste, welcher in seiner Regierung herrscht, in Verhältnis kommen, und zwar in ein Verhältnis, in welchem schon die überlegene Macht des Staats das freie Spiel der Kräfte hemmt. Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen. Je mehr also der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte. […] Wer aber für andre so räsoniert, den hat man, und nicht mit Unrecht, in Verdacht, dass er die Menschheit mißkennt, und aus Menschen Maschinen machen will.“ 4

Die Wirtschaft

In seiner Kritik gegen das Sorgen des Staates für das physische Wohl der Bürger beschrieb Humboldt die damaligen Verhältnisse so:

„Ich rede (…) hier von dem ganzen Bemühen des Staates, den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen, von aller Sorgfalt für die Bevölkerung des Landes, den Unterhalt der Einwohner, teils geradezu durch Armenanstalten, teils mittelbar durch Beförderung des Ackerbaues, der Industrie und des Handels, von allen Finanz- und Münzoperationen, Ein- und Ausfuhr-Verboten u. s. f. (insofern sie diesen Zweck haben), endlich allen Veranstaltungen zur Verhütung und Herstellung von Beschädigungen durch die Natur, kurz von jeder Einrichtung des Staates, welche das physische Wohl der Nation zu erhalten oder zu befördern die Absicht hat. (…)
Alle diese Einrichtungen nun, behaupte ich, haben nachteilige Folgen und sind einer wahren, von den höchsten, aber immer menschlichen Gesichtspunkten ausgehenden Politik unangemessen.“ 5

Diese Regelungen des Staates sind heute trotz freier Marktwirtschaft nur noch umfangreicher geworden. Das Währungssystem ist fest in der Hand staatlicher Notenbanken, Landwirtschaft und Industrie werden in großem Maße durch Subventionen gestützt und gefördert, und ein breites staatliches Sozialversicherungssystem fängt die aus dem gnadenlosen Profit-Kampffeld der Wirtschaft Herausgefallenen notdürftig auf, weil der Staat seine eigentliche Aufgabe versäumt, durch den Einzelnen sichernde Rahmengesetze dafür zu sorgen, dass das Bruttoinlandsprodukt nicht wenigen zugutekommt, sondern gerecht verteilt wird, so dass jeder genügend Einkommen hat, um sich für Notfälle selber abzusichern.

Humboldt geht detailliert auf die psychologischen Wirkungen ein, die die Fremdbestimmung durch den Staat zur Folge hat:

„Überhaupt wird der Verstand des Menschen doch, wie jede andre seiner Kräfte, nur durch eigne Tätigkeit, eigne Erfindsamkeit oder eigne Benutzung fremder Erfindungen gebildet. Anordnungen des Staates aber führen immer, mehr oder minder, Zwang mit sich, und selbst wenn dies der Fall nicht ist, so gewöhnen sie den Menschen zu sehr, mehr fremde Belehrung, fremde Leitung, fremde Hilfe zu erwarten, als selbst auf Auswege zu denken. …
Noch mehr aber leidet durch eine ausgedehnte Sorgfalt des Staates die Energie des Handelns überhaupt und der moralische Charakter. (…) Wer oft und viel geleitet wird, kommt leicht dahin, den Überrest seiner Selbsttätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern. Er glaubt sich der Sorge überhoben, die er in fremden Händen sieht, und genug zu tun, wenn er ihre Leitung erwartet und ihr folgt. Damit verrücken sich seine Vorstellungen von Verdienst und Schuld. Die Idee des erstern feuert ihn nicht an, das quälende Gefühl der letztern ergreift ihn seltener und minder wirksam, da er dieselbe bei weitem leichter auf seine Lage und auf den schiebt, der dieser die Form gab. …
Nicht minder sichtbar ist jener nachteilige Einfluss in dem Betragen der Bürger gegeneinander. Wie jeder sich selbst auf die sorgende Hilfe des Staates verlässt, so und noch weit mehr übergibt er ihr das Schicksal seines Mitbürgers. Dies aber schwächt die Teilnahme und macht zu gegenseitiger Hilfeleistung träger. Wenigstens muss die gemeinschaftliche Hilfe da am tätigsten sein, wo das Gefühl am lebendigsten ist, dass auf ihm allein alles beruhe. …
Was nicht von dem Menschen selbst gewählt, worin er auch nur eingeschränkt und geleitet wird, das geht nicht in sein Wesen über, das bleibt ihm ewig fremd, das verrichtet er nicht eigentlich mit menschlicher Kraft, sondern mit mechanischer Fertigkeit.“ 7

Das Bildungswesen

Dass es außerhalb der Zuständigkeit des Staates liegt, für das moralische, also das seelisch-geistige Wohl des Menschen zu sorgen, gewinnt für Humboldt eine zentrale Bedeutung im Bildungswesen. Das Menschengeschlecht sei jetzt auf einer Entwicklungsstufe angekommen, von der es sich nur durch Ausbildung der Individuen zu höchster Mannigfaltigkeit und freier Entfaltung ihrer Fähigkeiten höher entwickeln könne. Öffentliche Erziehung aber müsse immer eine bestimmte Form der Bildung begünstigen, die staatsbürgerliche Zwecke im Auge habe; sie erziehe insofern zur Einförmigkeit. Wenn der Mensch schon von seiner Kindheit an zum Bürger gebildet wird, werde der Mensch dem Bürger geopfert.

„Daher müsste, meiner Meinung zufolge, die freieste, so wenig als möglich schon auf die bürgerlichen Verhältnisse gerichtete Bildung des Menschen überall vorangehen. Der so gebildete Mensch müsste dann in den Staat treten und die Verfassung des Staates sich gleichsam an ihm prüfen.“ 8

 Nur so könne die Verfassung von Staat und Gesellschaft immer wieder für den Menschen verbessert werden. Der junge Mensch entwickle Energie und Widerstand gegen schädliche, einengende Fesseln bürgerlicher Einrichtungen, was er aber nur könne, wenn er sie vorher in Freiheit habe entwickeln können. Es gehöre schon ein ungewöhnlicher Grad an Energie dazu, „sich auch da, wo jene Fesseln von der ersten Jugend an drücken, noch zu erheben und zu erhalten. Jede öffentliche Erziehung aber, da immer der Geist der Regierung in ihr herrscht, gibt dem Menschen eine bürgerliche Form.“

Humboldt hält es auch für eine Illusion zu meinen, in der öffentlichen, staatlichen Schule sei es doch möglich, ihr ausschließlich die individuelle Entwicklung des Kindes, also allgemeine Menschenbildung zur Pflicht zu machen. Was Einheit der Anordnung hat, bringe auch allemal eine gewisse Einförmigkeit der Wirkung hervor.

„Überhaupt, soll die Erziehung nur, ohne Rücksicht auf bestimmte, den Menschen zu erteilende bürgerliche Formen, Menschen bilden; so bedarf es des Staates nicht. Unter freien Menschen gewinnen alle Gewerbe bessern Fortgang, blühen alle Künste schöner auf, erweitern sich alle Wissenschaften. (…) Bei freien Menschen entsteht Nacheiferung, und es bilden sich bessere Erzieher, wo ihr Schicksal von dem Erfolg ihrer Arbeiten, als wo es von der Beförderung abhängt, die sie vom Staate zu erwarten haben. (…) Öffentliche Erziehung scheint mir daher ganz außerhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muss.“ 9

Humboldt ist auch in der Leitung der preußischen Kultus- und Unterrichtsangelegenheiten, die er 1809 nur nach langem Zögern und Widerstreben angenommen hatte, diesen Ideen treu geblieben. Natürlich konnte er in dieser Stellung nicht anders, als ihnen weitgehend entgegen zu handeln, doch versuchte er in ihrem Sinne zu wirken, soweit es die Umstände zuließen. An seinen Mitarbeiter Uhden schrieb er am 9. Mai 1809: „Man muss so viel Freiheit lassen, als möglich. In Schulsachen muss das Regieren mit der Zeit so viel als möglich eingehen.“ So versuchte er, das Erziehungs- und Bildungswesen mit der Zeit vom Staat wirtschaftlich dadurch unabhängig zu machen, dass es sich durch eigenes Vermögen und durch Beiträge der Nation unterhielt. „Besonders bedeutsam in dieser Hinsicht ist sein Versuch zu erreichen, dass der neugegründeten Universität in Berlin, den Akademien der Wissenschaften und Künste sowie den damit verbundenen wissenschaftlichen Instituten und Sammlungen vom Staate ausreichenden Grundbesitz zu Eigentum übertragen werden. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit sollte die Grundlage für die geistige Freiheit und Selbständigkeit des Bildungswesens werden“ 10

Aussichten

Diese tief in der Lebenswirklichkeit gegründeten Ideen Humboldts haben ihre Aktualität nicht verloren; im Gegenteil, ihre Realisierung ist heute noch viel drängender geworden. Wenn wir uns aus der immer mehr zunehmenden Totalisierung des Staates befreien wollen, kann dies nur so geschehen, dass wir von unten drängen, die Gesellschaft in diese Richtung verändern.11 Von oben ist eine Veränderung nicht zu erwarten.

Das Prinzip, dass die Bürger für ihr physisches und seelisch-geistiges Wohl selber sorgen, bedeutet, dass das Wirtschaftsleben und das geistig-kulturelle Leben eine je vom Staat unabhängige Selbstverwaltung erhalten müssen, so dass sich der heutige allzuständige Einheitsstaat in die drei Glieder des staatlich-rechtlichen Lebens, der Wirtschaft und des Geisteslebens einschließlich des Bildungswesens aufgliedern würde. Damit würden letztere nicht sich selbst überlassen, sondern von Rahmengesetzen des Staates eingefasst, welche für Gerechtigkeit und Sicherheit des Einzelnen sorgen, so dass er z. B. vor Ausbeutung und Unterdrückung im Wirtschaftsleben geschützt ist.

Rudolf Steiner, der auf eigenen Wegen zu diesen Ideen eines dreigegliederten sozialen Organismus gekommen war, hat schon früh auf die Bedeutung der keimhaften Ideen Wilhelm von Humboldts in seiner Jugendschrift hingewiesen. Doch auch Steiners Sozialideen, mit denen er vor 100 Jahren, im Juli 1917, mit zwei Memoranden zum ersten Mal an die Öffentlichkeit trat12, werden bis heute von den Herrschenden und ihrem Wissenschaftsgefolge ignoriert.

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1   Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit
des Staates zu bestimmen, Stuttgart 1962, S. 21
2    Dietrich Spitta im Nachwort zu Anm. 1, S. 172
3    Wilhelm von Humboldt a.a.O., S. 93
4    a.a.O., S. 27, 28
5    a.a.O., S. 27
6    Vgl.: Der Sozialstaat – Feigenblatt des staatlichen, sozialen Unrechts
Der Sozialstaat – Hilfsorganisation wirtschaftlicher Ausbeutung
7    Anm.1, S. 29, 30, 33
8    a.a.O., S. 60
9    a.a.O., S. 62, 63
10  Dietrich Spitta im Nachwort, a.a.O., S. 176, der ein excellenter Kenner
des Humboldtschen Werkes ist. Siehe seine Schriften:
Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts, Berlin 2004;
Menschenbildung und Staat: Das Bildungsideal Wilhelm von Humboldts
angesichts der Kritik des Humanismus, 2006.
11  Vgl.: Allmächtiger Staat
12  In: Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus, GA 24

2 Kommentare zu „Die Grenzen der Wirksamkeit des Staates – Zum 250. Geburtstag Wilhelm von Humboldts“

  1. Wenn man bedenkt, welch weitsichtige Geistesgrößen (Humboldt, Kant usw.) bereits ihr Möglichstes versucht haben, dann raubt es einem – angesichts dessen was heute gesellschaftlich vorzufinden ist – die letzte Hoffnung.

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